2. Dezember
Frida Schanz
Mauerblümchen Teil 1

Das ist die Geschichte.
Mauerblümchen.
Mauerblümchen - das klingt so wehmütig, nach Vergessen- und Verlassensein, nach Darben und Sehnen. Man sieht bleiche, farblose Blüten dabei vor Augen, die niemand zum Strauße pflückt, oder auch wohl ein armes, trauriges, junges Ding, das Herz voll Sehnsucht, die Augen voll verstohlener Tränen, nicht hold, nicht schön, von keinem begehrt, übersehen, verschmäht, ganz allein, während alles rings umher im leuchtenden Saal lacht und scherzt und sich der seligen, flüchtigen Jugend freut.
Aber wie alles in der Welt seine sinnigen Liebhaber finden kann, so auch die verachteten Mauerblüten. Sieht man genauer zu, so finden sich gerade an altem Gemäuer unter dem unscheinbarsten Pflanzenwuchs die lieblichsten Blumengesichter, und wer sich in einem Ballsaal einmal die Mühe nimmt, den armen Sitzengebliebenen in die verschleierten Augen zu schauen, der entdeckt vielleicht unter den gesenkten Wimpern einen süßeren Glanz, als in den strahlenden Augen der schönen Ballköniginnen, die gerade Zufall, Glück, Mode des Geschmacks auf den Schild erhoben hat. Ich fand einmal an einer morschen Weinbergsmauer einen wahren Busch voll großer, tiefdunkelblauer, entzückend duftender Veilchen.
Das Mauerblümchen, von dem ich heute erzählen will, ist zufällig auch ein Veilchen. Sie wurde Viola getauft, weil die Veilchenbeete in ihrer Eltern kleinem Garten noch niemals so märchenhaft reich geblüht hatten, wie in jenem Frühling, da sie geboren ward; der seltene Name ward aber für den gewöhnlichen Gebrauch in einem einfachen und ärmlichen Lehrerhaus als viel zu schade betrachtet; deshalb wurde sie als einziges Schwesterchen von vier älteren Brüdern einfach Mädi genannt; nur auf ihren Schulheften und auf ihren geliebten Zeichenbrettern und Zeichenbüchern prangte der Veilchenname.
Daß Mädi mit sechzehn Jahren schon auf einen Ball kam, war eigentlich ganz gegen die Grundsätze ihrer einfachen Erziehung. Aber dieser Ball sollte eine Art Schmerzensgeld sein. Mädi tat den Eltern leid. Sie hatte eben mit einem heißen jungen Wunsch auf eine rührende, heldenhafte Weise für immer abgeschlossen. In Mädi steckte ein Stückchen Künstlergenie; man sah es dem schlichten, bescheidenen Kinde gar nicht an, aber viele Hunderte von kleinen reizenden Bleistiftskizzen, Momentbildchen voll scharfer und klarer Charakteristik, voll kluger und lieblicher Auffassung, die in allen Heften, in allen Mappen und Büchern Mädis zu finden waren, sprachen dafür. Der Zeichenlehrer der Fortbildungsschule hatte es auch gesagt, er hatte Mädis Eltern ernst beschworen, dies reizende Talent ausbilden zu lassen - aber ein armer Unterlehrer, dem die Zukunft von vier Söhnen zu sichern obliegt, fühlt leider bei jedem Sprung seiner Wünsche gar schmerzhaft den strengen Zügel der Not. Wie hätte man eine lange künstlerische Ausbildung für Mädi bestreiten sollen? Im Orte gab es, obgleich derselbe nicht klein war, nicht eine einzige geeignete Lehrkraft. Unterricht und Pension in einer fremden Stadt, - das waren unerschwingliche Luxusdinge. Und dazu lag hart neben dem kleinen Lehrerhaus als nicht zu übersehende Mahnung das große neugegründete Lehrerinnenseminar; eine Freistelle darin war Mädi gesichert; so gab es eigentlich gar keine Wahl, gar kein Schwanken, nur ein paar heimliche mitleidige Tränen von Mädis Mutter, als die Entscheidung fiel, und ein paar Tage voll unnatürlicher, wehmütig-fieberhafter Lustigkeit von Mädis Seite. Die Eltern kannten sie. Unter dieser Art Fröhlichkeit hatte sie immer ihr kleines und großes Leid versteckt; es lag viel Festigkeit und starker Wille, viel Kraft zum Überwinden in dem jungen Ding. Weinen und klagen hatte sie nie gemocht.
Zu Ostern sollte der Klassenkursus im Seminar beginnen. Mitte März kam die Einladung von Tante Jettchen nach Kurzstädt zum Kasinoball. Ein Ball - solch ein leuchtender Saal voll Schönheit, Leben und Fröhlichkeit - das war der kleinen Künstlerin immer als etwas berauschend Reizendes erschienen. Während ihrer Studienzeit durfte sie ja nie einen Ball besuchen, und ist die Studienzeit zu Ende, dann, mit neunzehn Jahren, meint eine Sechzehnjährige, ist die Jugend beinahe vorbei. Und alles das, obgleich sie es kaum aussprach, empfand ihr die Mutter, die treueste und liebste Freundin, heimlich nach; so kam es dann, daß Mädi den feinen rosa Wollstoff auf ihrem Geburtstagstisch fand, daß Bruder Hans noch am selben Tag die Schlösser an seinem Studentenköfferchen putzte, kurzum, daß es beschlossen und abgemacht war: Mädi fährt nach Kurzstädt zum Kasinoball.
Tante Jettchen war des Vaters ältere Schwester, welche an einen noch viel älteren Gatten, einen nunmehr pensionierten höheren Steuerbeamten verheiratet war. Das greise, gemütliche Paar besaß eine gewisse Wichtigkeit in der kleinen Stadt; sie hatten vor Jahren das Kasino, die etwas steife, sehr ehrbare Elitegesellschaft der Honoratioren, mit gegründet und besuchten deren Stiftungsbälle noch heute mit einer Art von rührendem Pflichtgefühl; Tante Jettchen thronte dann im hohen Kopfputz unter den Ballmüttern und nahm an den Triumphen der Stadtschönheiten teil, als ob sie alle ihre Töchter seien; Onkel Ernst saß währenddessen beim Kartenspiel oder beim Glase Wein und brachte jedesmal unter dem nämlichen Gelächter seiner Zuhörer die nämlichen Witze vor. So war es seit Jahren gewesen, bis ihnen der Ehrgeiz kam, einmal als wirkliche Balleltern aufzutreten. Mädi, ihr Patenkind, mußte ja nun erwachsen sein. Ob sie bei den Kurzstädtern würde Staat mit ihr machen können, war der Tante beim ersten Eindruck, den sie von Mädi gewann, nicht klar; die Kleine war ohne Zweifel fein und lieb und schön, aber doch gar sehr blaß, und für den Kurzstädter Geschmack lange nicht lebhaft, kokett-mutwillig und munter genug, viel zu eigen und zurückhaltend im Gespräch. "Sie muß es eben den anderen ein wenig absehen", dachte die alte Frau.
Leider wurde die Tante krank, ehe der Ballabend kam; nicht schlimm und gar nicht gefährlich, aber doch so, daß sie ihren Ballmutterpflichten unmöglich obliegen konnte. Mädi sollte also ihre ersten Balllorbeeren unter Onkel Ernsts alleiniger Obhut ernten.
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