14. DEZEMBER
Hermione von Preuschen
INDRA

Erster Teil
Indra
Anhalter Bahnhof in Berlin! Das Zeichen zur Abfahrt des Nachtschnellzugs Berlin-Frankfurt war gegeben. Ein eleganter Herr ging wie suchend an den Coupés entlang. Am Damencoupé dritter Klasse blieb er unwillkürlich stehen, und ein Glimmern ging durch seine schönen, grauen Augen, daß sie wie grüner Phosphor aufblitzten. Dann schritt er nach seinem behaglichen Abteil erster Klasse, in dem er ganz allein fuhr und sich bequem ausstreckte.
Die Ursache dieses Phosphorblicks, Indra Versen, drückte sich derweil in der Mitte des überfüllten Wagens. Sie winkte noch einmal hinaus, nach der behäbigen, blonden Dame, die, laut weinend, wie von Schluchzen geschüttelt, vor der Tür stand. - "Ich seh' dich nicht wieder, Indra, ich fühle es, du bist mir verloren." - "Aber Mutter," lächelt Indra etwas verlegen, denn sie liebt keine Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit, "bedenke doch, es ist ja ein Glück, daß deine Freundin mich haben will, und ich werde Tunis sehen - Tunis!" Auch durch ihre Augen zuckt ein Blitz wie ein großes Freudenfeuer. - "Ich seh' dich nicht wieder!" schluchzt die Mutter. - Der Zug setzt sich in Bewegung, die Mutter winkt, und Indra winkt noch in die Nacht, mit dem weißen Taschentuch, das vor den Augen der Mutter und der Tochter kleiner und kleiner wird - wie ein Schmetterling, der sich hinaus in Nacht und Dunkel verflogen. - Indra schließt die Augen und versucht zu schlafen. Aber wie ist dies möglich vor dem wasserfallartigen Rauschen des eintönigen Plauderbachs der "Damen". Ganze Familien-, Krankheitsgeschichten, Hochzeit, Tod - alles erörtert sich zwischen ein paar Stationen!
Hinter Brandenburg wird's etwas leerer, Indra will sich gerade ein wenig ausstrecken, da kommen drei neue Damen mit zahllosem Handgepäck. - Aber wenigstens hat das junge Mädchen einen Eckplatz erobert und fühlt sich schon dadurch vom Geschick bevorzugt. - "Alles Glück des Lebens ist wirklich nur relativ," denkt sie. "Aus der eingekeilten Mitte, sardellenartig gepreßt von glotzenden Damen, scheint mir hier auf dem Fensterplatz mein Los schon ein günstigeres. Käme ich aus einem leeren Coupé erster Klasse, erschiene mir dieser Platz unerträglich." - Wieder versucht sie, die Augen schließend, einzuschlummern, aber neue Lebensgeschichten plätschern an ihr vorüber. - "Welch furchtbare Stimmen all diese Weiber haben, seelenlos wie Blech," denkt sie. "Welche Stimme wohl der Fremde hat, der mich vorhin so lange angesehen? Sind Stimmen Seelenträger, oder können auch Stimmen trügen wie Menschen? - Nun sitzt die gute Mutter daheim und heult - statt daß sie sich freuen sollte, daß ich nun hinauskomme in die herrliche Welt, nach der unerträglichen Enge und Kleinheit unseres Lebens, nach dem furchtbaren ›Kampf mit dem Pfennig‹, der unsere besten Instinkte tötet." Indra ist's, als müsse sie die Arme ausstrecken, die Welt zu umfassen, die bunte, herrliche Welt, der sie jetzt mit allem Sinnen und Sehnen, mit innerem Jauchzen entgegenfährt. -
Fünfundzwanzig Jahre war sie nun, fast "alt", wie sie lächelnd konstatierte. Und was hatte sie erlebt an bunten, großen Schicksalen? Innerlich freilich wälzten sich täglich neue Tragödien in ihrer Seele, von denen sie abends todmüde, fast zerbrochen aufs Lager sank. - Ach, wie verstand sie doch Schopenhauer, wenn er sagt: "Ganz mit Unrecht pflegt man die Jugend die glücklichste Lebenszeit zu nennen. Das wäre wahr, wenn Leidenschaften glücklich machten." Indra seufzte, ja, ihre Leidenschaften, ihre Sehnsucht nach allem Großen, allem Herrlichen dieser Welt, auch allen Wundern der Liebe, die ihr erschienen wie ein glänzendes Mysterium, hatten sie tief unglücklich gemacht. Das durfte sie der guten Mutter nicht zeigen, die nach des Vaters Tod, der ein herrlicher Landpfarrer im alten Stil gewesen, und nach dem Tod von vier jüngeren Kindern, die einer Diphtheritisepidemie erlagen, mit der damals vierzehnjährigen Indra nach einer Vorstadt von Berlin gezogen war, um dem hochbegabten, ausgeweckten Mädchen alle Gelegenheit zur Weiterbildung zu geben. Die gute Mutter vergaß, daß die hochgemute Tochter das tägliche Elend des "sich nach der Decke streckens" immer wieder aus allen Himmeln ihrer Träume riß. - Indra verstand sich selber nicht, wußte nicht, was sie wollte - nur ihre Sehnsucht ward mächtiger mit jedem Tag. Sie kam sich von allem glanzvollen Treiben der Großstadt wie ausgeschlossen vor. - Vor der Pforte des Lebens stehend - wie ein armes Kind von der Straße am Christabend drinnen die Lichter blitzen sieht, deren Glanz ihm nur wehe tut, draußen in seiner kalten Winternacht.

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