10. DEZEMBER
BETTINA VON ARNIM
Briefwechsel mit Goethes Mutter

Liebste Frau Rat!
Am 1. März 1807
Ich warte schon lange auf eine besondere Veranlassung, um den Eingang in unsere Korrespondenz zu machen. Seitdem ich aus Ihrem Abrahamsschoß, als dem Hafen stiller Erwartung, abgesegelt bin, hat der Sturmwind noch immer den Atem angehalten, und das Einerleileben hat mich wie ein schleichend Fieber um die schöne Zeit gebracht. Wie sehr bejammere ich die angenehme Aussicht, die ich auf der Schawell zu Ihren Füßen hatte, nicht die auf den Knopf des Katharinenturms, noch auf die Feueresse der rußigen Zyklopen, die den goldnen Brunnen bewachen; nein! die Aussicht in Ihren vielsagenden feurigen Blick, der ausspricht, was der Mund nicht sagen kann. - Ich bin zwar hier mitten auf dem Markt der Abenteuer, aber das köstliche Netz, in dem mich Ihre mütterliche Begeisterung eingefangen, macht mich gleichgültig für alle. Neben mir an, Tür an Tür, wohnt der Adjutant des Königs; er hat rotes Haar, große blaue Augen, ich weiß einen, der ihn für unwiderstehlich hält, der ist er selber. Vorige Nacht weckte er mich mit seiner Flöte aus einem Traum, den ich für mein Leben gern weiter geträumt hätte, am andern Tag bedankt ich mich, daß er mir noch so fromm den Abendsegen vorgeblasen habe; er glaubte, es sei mein Ernst, und sagte, ich sei eine Betschwester, seitdem nennen mich alle Franzosen so und wundern sich, daß ich mich nicht drüber ärgere; - ich kann aber doch die Franzosen gut leiden.
Gestern ist mir ein Abenteuer begegnet. Ich kam vom Spaziergang und fand den Rothschild vor der Tür mit einem schönen Schimmel; er sagte: es sei ein Tier wie ein Lamm, und ob ich mich nicht draufsetzen wolle? - Ich ließ mich gar nicht bitten, kaum war ich aufgestiegen, so nahm das Lamm Reißaus und jagte in vollem Galopp mit mir die Wilhelmshöher Allee hinauf, ebenso kehrte es wieder um. Alle kamen totenblaß mir entgegen, das Lamm blieb plötzlich stehen, und ich sprang ab; nun sprachen alle von ihrem gehabten Schreck; - ich fragte: "Was ist denn passiert?" - "Ei, der Gaul ist ja mit Ihnen durchgegangen!" - "So!" sagt ich, "das hab ich nicht gewußt." - Rothschild wischte mit seinem seidnen Schnupftuch dem Pferde den Schweiß ab, legte ihm seinen Überrock auf den Rücken, damit es sich nicht erkälten solle, und führte es in Hemdärmel nach Haus; er hatte gefürchtet, es nimmermehr wiederzusehen. - Wie ich am Abend in die Gesellschaft kam, nannten mich die Franzosen nicht mehr Betschwester, sie riefen alle einstimmig: "Ah l'héroïne!"
Leb Sie wohl, ruf ich Ihr aus meiner Traumwelt zu, denn auch über mich[15] verbreitet sich ein wenig diese Gewalt. Ein gar schöner (ja ich müßte blind sein, wenn ich dies nicht fände), nun, ein feiner, schlanker brauner Franzose sieht mich aus weiter Ferne mit scharfen Blicken an, er naht sich bescheiden, er bewahrt die Blume, die meiner Hand entfällt, er spricht von meiner Liebenswürdigkeit; Frau Rat, wie gefällt einem das? - Ich tue zwar sehr kalt und ungläubig, wenn man indessen in meiner Nähe sagt: "Le roi vient", so befällt mich immer ein kleiner Schreck, denn so heißt mein liebenswürdiger Verehrer. Ich wünsche Ihr eine gute Nacht, schreib Sie mir bald wieder.
Bettine

GOETHES MUTTER AN BETTINE
Am 14. März 1807
Ich habe mir meine Feder frisch abknipsen lassen und das vertrocknete Tintenfaß bis oben vollgegossen, und weil es denn heute so abscheulich Wetter ist, daß man keinen Hund vor die Tür jagt, so sollst Du auch gleich eine Antwort haben.
Liebe Bettine, ich vermisse Dich sehr in der bösen Winterzeit; wie bist Du doch im vorigen Jahr so vergnügt dahergesprungen kommen? - Wenn's kreuz und quer schneite, da wußt ich, das war so ein recht Wetter für Dich, ich braucht nicht lange zu warten, so warst Du da. Jetzt guck ich auch immer noch aus alter Gewohnheit nach der Ecke von der Katharinenpfort, aber Du kommst nicht, und weil ich das ganz gewiß weiß, so kümmert's mich. Es kommen Visiten genug, das sind aber nur so Leutevisiten, mit denen ich nichts schwätzen kann.
Die Franzosen hab ich auch gern - das ist immer ein ganz ander Leben, wenn die französische Einquartierung hier auf dem Platz ihr Brot und Fleisch ausgeteilt kriegt, als wenn die preußische oder hessische Holzböck einrücken.
Ich hab recht meine Freud gehabt am Napoleon, wie ich den gesehen hab; er ist doch einmal derjenige, der der ganzen Welt den Traum vorzaubert, und dafür können sich die Menschen bedanken, denn wenn sie nicht träumten, so hätten sie auch nichts davon und schliefen wie die Säck, wie's die ganze Zeit gegangen ist.
Amüsiere Dich recht gut und sei lustig, denn wer lacht, kann keine Todsünd tun.
Deine Freundin
Elisabeth Goethe
Nach dem Wolfgang frägst Du gar nicht; ich hab Dir's ja immer gesagt: wart nur bis einmal ein andrer kommt, so wirst Du schon nicht mehr nach ihm seufzen.
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