7. DEZEMBER
Ida Hahn-Hahn
GRÄFIN FAUSTINA
ein Roman aus der Biedermeierzeit.
In Faustinens Wohnung herrschte tiefe Stille. Sie lag an der Promenade; da gab es kein Wagengerassel, kein Pferdegestampf, kein Marktweibergeschrei, nichts, was an den Tumult und das Bedürfnis erinnert. Die Fenster des Salons - lange Glastüren, die auf den Balkon führten - waren geöffnet und die Jalousien herabgelassen, damit nur das scharfe Licht, nicht die Luft verbannt sei. Auf einer Ottomane saß der Baron Andlau und blätterte in einem Buch, ziemlich unaufmerksam, denn er wartete. Nichts auf der Welt ist störender als die Erwartung, sogar von den geringfügigen Dingen. Von dem Augenblick an, wo man wartet, ist man trotz aller Fähigkeiten, Kräfte und Sinne nichts als ein Schütze, der von der ganzen Erde nichts sieht und weiß außer dem schwarzen Punkt in der Scheibe.
Andlau wartete auf Faustine. "Warum kommt sie nicht?" sagte er zu sich selbst. "Sollte ihr irgend etwas zugestoßen sein? Warum bin ich nicht mit ihr gegangen? Mein Kopfweh wäre nicht ärger worden! Warum ließ ich sie überhaupt gehen in dieser heißen Tageszeit!"
Er nahm den Hut und wollte ihr entgegen; da hörte er ihren Schritt auf der Treppe. Er sprang auf und öffnete ihr die Tür. Es wurde ganz hell in dem verfinsterten Gemach, als sie eintrat.
In ihrem Charakter waren viele Unregelmäßigkeiten und manche Schatten; doch der vorherrschende Zug ihres ganzen Wesens war eine Liebenswürdigkeit, die jene ausglich und diese überstrahlte. Worin ihre Liebenswürdigkeit bestand, konnte man nicht bestimmt sagen, vielleicht bloß darin, daß sie natürlich und ohne Ansprüche war, und von niemandem weder Lob, noch Beifall, noch Huldigung verlangte. Die tiefe Sorglosigkeit über den Erfolg ihrer Erscheinung oder ihres Gesprächs gab ihr eine solche Frische, daß um alltägliche Handlungen, um gewöhnliche Worte ein reizender Schmelz gehaucht war, wie er auf frischgepflückten Früchten liegt. Es ist ein Hauch, ein Duft, eben Nichts. Doch wenn die Früchte zwölf Stunden im Zimmer gestanden, so ist dies liebliche Nichts verschwunden, und dann, wenn man es vermißt, wird es erst erkannt. Trotz ernster Lebenserfahrung, die oft mutlos; trotz herben Kummers, der oft trübe macht; trotz der Verhältnisse, die sie beengten, war Faustine an Körper und Geist, an Sinn und Seele jung und frisch, als hätte sie nichts erfahren, nichts gelitten; und fremd in den Verhältnissen des Lebens, als bewohne sie den Regenbogen oder den Orion und komme nur zufällig bisweilen auf die Erde herab. Sie war ganz und ungeteilt Eins, nicht zerstückelt, nicht zersplittert. Das gab ihr Klarheit. Sie blickte weder rechts noch links auf Wege, wo andere gingen; sie wandelte unbekümmert auf dem ihren. Das gab ihr Sicherheit. Sie griff nicht hier und dort nach Haltung umher, nach Liebe und Freundschaft suchend. Sie war begnügt im tiefsten Wesen. Doch wenn man ihr entgegentrat und ihr die Hand bot, oder wenn sie erkannte, daß sie die Hand bieten durfte, so tat sie es gern, nahm und gab dem fremden wie dem eignen Bedürfnis und Wunsch. Aber wer nicht mit ihr Schritt hielt, wer ihr kein Stab war, woran sie sich heraufranken konnte ans Licht, kein Fels, woran sie emporklettern konnte zur Luft, den ließ sie los, gleichgültig, unbefangen, wie man eine welke Blume nicht wegwirft, aber fallen läßt. Menschen, Zustände, Welterscheinungen, eigene Fehltritte, alles war ihr Mittel, um sich daran fort- und auszubilden. Sie sagte oft:
"Helden, Künstler, große Herrscher, was tun sie anderes, als daß sie in ihrem Wirkungskreise, der freilich nicht kleiner als die Welt ist, sich selbst zur Vollkommenheit durchzuarbeiten suchen? Das ungemessene Streben, Dursten und Ringen nach Vollendung kennt jeder, aber nicht jeder kann zu seiner Bildung in die Zeit hineingreifen und sich einen Thron in ihr errichten, oder in den Stein hauen und sich ein Monument daraus bauen. Es ist eine große Erleichterung für den Menschen, ein Genie in irgendeiner Kunst, daß heißt in irgendeinem Zweige des geistigen Lebens zu sein; er hat, woran er sich üben kann. In seine Schöpfungen legt er den Überfluß des Daseins nieder und taucht frischgewaschen aus diesem Bade hervor, wie die großen Bergströme erst dann klares Wasser bekommen, wenn sie durch einen See geflossen sind. Wir Nicht-Genies müssen uns helfen, wie wir eben können, und ich bilde mir ein: Alles kann uns dienen, ohne daß wir deshalb geistige Blutsauger werden müssen."
Aber unter dienen verstand sie eine Behilflichkeit zur Erlangung kleiner Absichten und Zwecke. Niemand besaß weniger Geschick als sie, die Menschen zu gewinnen und zu lenken für ihre Pläne; schon deshalb, weil sie schwerlich je einen andern Plan als den einer Reise oder einer Spazierfahrt gehabt. Die Menschen dienten ihr wie anatomische Präparate oder wie seltene Pflanzen, als Studien, nicht einer Wissenschaft oder einer Kunst, sondern des Lebens, das sie nach allen Richtungen, in allen Äußerungen verfolgen und verstehen wollte. "Ein Vogel singt, der andere fängt Mücken; jedes Ding hat seine Art," sagte sie, und jede Art war ihr interessant; mitunter freilich nur auf zwei Minuten. "Ist das meine Schuld?" fragte sie unbefangen, wenn Andlau oder andere Freunde ihr vorwarfen, daß sie leicht der Dinge überdrüssig werde und heute gähne, wo sie gestern Beifall geklatscht. "Ich habe wirklich noch nie Überdruß an meinem Gott und meiner Liebe empfunden."
Fast alle Frauen ohne Ausnahme hatten Faustine lieb, denn in keinem Stück wetteiferte sie mit ihnen. Sie gönnte ihnen ihre Triumphe, ihre schönen Kleider, ihre Anbeter, ihre Verdienste, und begnügte sich, das alles nicht zu haben. Zwar stellte sie die schönsten und glänzendsten Frauen in Schatten, doch so, daß beide Teile keine Ahnung davon hatten. Die schönen sagten: "Sie hat sehr viel Verstand, aber schön ist sie durchaus nicht." Die klugen: "Verstand hat sie nicht viel, aber sie ist allerliebst." Keine verglich sich mit ihr, so wie prächtige Gartenblumen sich vielleicht nicht mit einer Alpenpflanze vergleichen möchten. Ein Wilder sagte einst, als er das Gemälde eines Engels sah: "Er ist meines Geschlechts." Zivilisierte Leute haben nicht mehr diesen erhabenen inneren Blick.
Männer interessierten sich im allgemeinen weniger für Faustine. Sie war zu unduldsam gegen fade Schmeicheleien, und - Gott sei es gesagt! - sie machen den Lichtpunkt in der Unterhaltung der Männer aus. Damit hatte sie gar keine Nachsicht; das heißt die Langeweile malte sich unwillkürlich, aber so deutlich auf ihr durchsichtiges Antlitz, daß mehr als Verwegenheit dazu gehört hätte, eine Unterhaltung fortzusetzen, die solche Wirkung hervorbrachte. Folglich hatte die Masse der Männer ihr nichts zu sagen, und nichts drückt einen Mann mehr, als sich einer Frau gegenüber unwichtig zu fühlen. Daher kommt es, daß das eigene Geschlecht ziemlich willig einer hervorragenden Frau geistige Bedeutung und Übergewicht verzeiht; das fremde hingegen nur dann, wenn sie von den Grazien zur Gefährtin geweiht ist.
Älteren Leuten gefiel sie besser als jungen; vermutlich deshalb, weil sie freundlicher gegen jene war, teils aus Achtung vor dem Alter, teils weil sie behauptete, man liefe bei ihnen keine Gefahr, nicht - sich zu verlieben, sondern in diesen Verdacht zu kommen, was sehr unbequem und störend sei. Ohne Vermögen, ohne Ansehen, ohne Verbindungen, ohne Intrigen, nur durch die Macht ihrer Persönlichkeit hatte sie es dahin gebracht, daß die Welt ihr Verhältnis zum Baron Andlau stillschweigend wie ein gesetzliches anerkannte und, um sich gleichsam für diese Nachsicht zu entschuldigen, eine heimliche Ehe voraussetzte.
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